Was uns C.G. Jung heute zu sagen hat
1. Einführung: Unsere Situation
Es gibt eine verwirrende Vielfalt von spirituellen Ratgebern aller Schattierungen. Viele Menschen fühlen sich im Verhältnis zu den andrängenden Glücksverheißungen hilflos. Sie sind orientierungslos wie aufgeschreckte Schafe. Eine Grundorientierung wird hier bei C.G. Jung gesucht.
2. Die menschliche Natur
Neben dem Bewusstsein ist dem Menschen das Unbewusste eigen, beide zusammen nennt Jung das Selbst. Das Unbewusste ist ein Stück Natur, das unser Geist nicht fassen kann und enthält unter anderem alles, wovon wir uns durch den erzieherischen Einfluss unserer Umwelt getrennt haben. Wenn ein Kind zur Reinlichkeit erzogen worden ist, dann wird es später, wenn es mit Schmutz in Berührung kommt, sich ekeln: Weil die Liebe zum Schmutz nun vom Bewusstsein abgespalten ist. Die Zuneigung zum Schmutz ist etwas, was fast alle Menschen entrüstet von sich weisen.
Jung hat festgestellt, dass es im Menschen einen Bereich gibt, den er Seele genannt hat. Wie bei der Erkundung eines unbekannten Landes hat er das Vorhandensein dieses Bereiches indirekt erschlossen – aus Träumen, Märchen, heiligen Schriften und Wahnideen. Jung spricht von der Wirklichkeit der Seele, aber er beschränkt seine Aussagen auf das, was beweisbar oder begründbar ist. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass die Seele nicht in Worten zu uns sprechen kann, sondern sich durch Bilder, Symbole und Gefühle mitteilt. Ich denke, die Seele ist der Bereich des Menschen, der die Verbindung zur höheren Ebene oder zu Gott herstellt. Das ist ein Satz, den Jung wahrscheinlich mit Kopfnicken zur Kenntnis genommen hätte, aber er hätte ihn nicht selbst gesagt.
Freuds Psychologie sei dagegen, so Jung, eine Psychologie ohne Seele. Freud hat die spirituelle Bezogenheit des Menschen, sein Eingebettetsein in eine viel größere Welt, nicht wahrhaben wollen. Er hat leider auch übersehen, dass der Mensch noch zu keiner Zeit imstande war, allein mit den Mächten der Unterwelt, also des Unbewussten, fertig zu werden. Wenn ein Zugang zu den tiefsten Schichten des Unbewussten, also der Seele, geöffnet wird, oder sich unbewusste Inhalte gewaltsam ins Bewusstsein drängen, dann hat das in einem vorher kultivierten Ich chaotische Verwüstungen zur Folge. Seit urältesten Zeiten weiß der Mensch um diese Gefahr und hatte darum religiöse und magische Bräuche, um sich vor der Bedrohung zu schützen. Das ist nicht so übertrieben, wie es sich zunächst anhört, denn allzu oft geschieht es, dass z.B. jemand plötzlich einen Fremdenhass entwickelt oder sich so verliebt, dass er seine Emotionen nicht mehr beherrschen kann oder einer Sucht, wenn nicht einem Verbrechen anheim fällt.
3. Das kollektive Unbewusste
Jung hat in manchen Träumen Bilder entdeckt, die nicht von der Person des
Träumers stammen können. Diese Bilder oder Geschehnisse passen auf Muster, die bei Menschen aus aller Welt, Europäern, Afrikanern und Urvölkern übereinstimmen. Jung hat diese Muster Archetypen genannt.
Der Archetypus stellt einen unbewussten Inhalt dar, der durch seine Bewusstwerdung und das Wahrgenommenwerden verändert wird, und zwar im Sinne des jeweiligen individuellen Bewusstseins, in welchem er auftaucht.
Beispiele für Archetypen, die schon als uns zugehörig empfunden werden, sind die Elterngeister: Anima und Animus, das Selbst, das Gottesbild und der alte Weise.
Der Archetypus des Selbst
Jung verwendet den Begriff des Selbst, wenn auf die menschliche Ganzheit, also auf das Bewusste und das Unbewusste zusammen Bezug genommen wird. Dieses Ganze lässt sich jedoch nur schwer beschreiben, weil ein Teil niemals das Ganze sehen kann. Nun tauchen in Märchen, Mythen und Träumen Bilder auf, die dieses Ganze darstellen wollen wie ein Schauspieler seine Rolle spielt. Plötzlich taucht also in einem Menschen etwas auf, das nicht von ihm stammt. Damit es jedoch aus dem Unbewussten auftauchen kann, muss es eine konkrete Gestalt annehmen. Es wird ein Schauspieler gebraucht, der das Selbst darstellt, also ein Symbol des Selbst ist. Das kann bei einem Menschen Christus, bei einem anderen Buddha sein. Diese religiösen Figuren sind Schauspieler, die den Archetypus des Selbst darstellen. Erbsünde, Sinn und Wert des Leidens sind somit keine sinnlosen Dogmen, sondern können zu Gefühlserfahrungen werden.
Christus und Buddha sind die beiden am höchsten entwickelten Symbole des Selbst, aber dennoch enthält das Selbst Gegensätze, die durch Christus oder Buddha nicht vollständig verkörpert werden. Jung schreibt: “der Gegensatz zwischen Hell und Gut einerseits und Dunkel und Böse andererseits wurde (im Christentum) in seinem offenen Konflikt belassen, indem Christus das Gute, der Teufel aber das Böse vertritt. Dieser Gegensatz ist das eigentliche Weltproblem, welches bis jetzt noch ungelöst ist.”
In einem praktizierenden Christen oder Buddhisten oder Taoisten wird der Archetypus des Selbst, wenn er sich in einer Vision meldet, in der Gestalt erscheinen, die dem Menschen vertraut ist und der Mensch wird dadurch in der Lage sein, die Erscheinung in den Rahmen seiner Überzeugungen zu stellen. Damit ist die unheimliche Erfahrung kanalisiert und der Schrecken ist gebändigt. Wenn ein Mensch kein solches Interpretationsschema hat, dann kann eine solches Auftreten des Archetypus äußerst schreckhaft sein und den Menschen aus der Bahn werfen. Jung empfiehlt hier einen nachdenklichen Gang durch eine psychiatrische Klinik.
Eine Grundeigenschaft des Selbst ist seine Gegensätzlichkeit, die wir unter dem Namen Polarität kennen. Im Grunde ist es so, dass Gott seine eigenen Gegensätze im Menschen vereinigen will. Christus ist ein Mann mit weiblichen Eigenschaften! Die göttliche Dichotomie, wie sie bei Walsch beschrieben wird, bedeutet, dass Gott selbst gespalten ist, aber sich nach der Erfahrung sehnt, in der Seele jedes Menschen Eins zu werden. Deshalb betont das Christentum die Sündhaftigkeit des Menschen und damit seine Erlösungsbedürftigkeit, um darauf hinzuweisen, dass die polaren Gegensätze nach Vereinigung streben.
Der Archetypus des Gottesbildes:
Gott ist eine allgemeine innere Erfahrung, die jeder Mensch hat und die also keines Beweises bedarf. Beispielsweise kann Gott auch durch einen starken Affekt erfahren werden, durch einen “heiligen Zorn” oder eine Verliebtheit, die unsere bewussten
Absichten durchkreuzt.
Alle richtigen Aussagen über das Gottesbild müssen unvermeidlich Widersprüche in sich selbst enthalten, die man als komplementär auffassen muss. Deshalb spricht sich der Archetypus des Gottesbildes in Paradoxien aus, für die Jungfrauengeburt, Auferstehung und Himmelfahrt, Abendmahl, Erlösung, Gott und Teufel und die Allgegenwart Gottes als Beispiele dienen mögen. Die religiösen Symbole sind spontane Erzeugnisse der unbewussten Seelentätigkeit. Im Lichte des sog. aufgeklärten Verstandes verlieren sie jedoch ihre Wirkung. Da sie aus der menschlichen Seele entstanden sind, werden nun, da die alten Bilder ihre Kraft verloren haben, neue Mythen in Form der Massensuggestion hervorbrechen. Sie heißen jetzt z.B. Freiheit, Marktgesetze, Kapitalismus. Während die seelischen Strukturformen weiterhin wirksam bleiben, ändern sich die manifesten Bilder. “Niemand glaubt an Wotan, aber der Wüterich ist überall lebendig!” (Jung)
Früher gab es für die Dinge der Seele religiöse Bilder. Diese Bilder – seien sie nun christlich oder buddhistisch, waren geheimnisvoll und ahnungsreich. Aber nun sagen sie uns nichts mehr und es ist nur noch ihre sinnlose Äußerlichkeit übrig. Zum Beispiel lässt es sich auch historisch nachweisen, dass die Rede von der Jungfrauengeburt Jesu als ein Titel gedacht war, der etwas über Jesus aussagen sollte, nicht aber über seine Mutter und ihre sexuelle Vorgeschichte. Dieser Titel wurde bei der Übersetzung eines älteren aramäischen und rein historischen Textes ins Griechische in die christliche Überlieferung hineingefälscht – aber das geschah deshalb, weil sein aus der griechischen Mythologie stammender Symbolgehalt in die christliche Überlieferung aufgenommen werden sollte.
4. Der Weg zur Ganzheit
Alle Weisheitslehrer und Mythologien stimmen darin überein:
Unsere Aufgabe besteht darin zu erkennen, wer wir sind, anders gesagt: uns selbst zu erkennen.
Jung nennt diesen Weg Individuation. Das Ziel der Individuation ist , das Selbst aus den falschen Hüllen der Persona (äußere Persönlichkeit) einerseits und aus der Suggestivgestalt unbewusster Bilder andererseits zu befreien. Die Persona wird als eine Maske aufgefasst, durch die wir bei unseren Mitmenschen einen erwünschten Eindruck, z.B. den der bürgerlichen Wohlanständigkeit, erzeugen wollen. Wenn wir das loslassen können und auch nicht mehr unter der Gewalt unbewusster Bilder stehen, dann haben wir einen Schritt zur Ganzwerdung gemacht, dann sind wir “individueller” geworden. Im Grunde kann kein anderer Mensch der Mensch sein, der ich bin!
Wir sehnen uns nach einer Wiederherstellung der Ganzheit auf der Stufe des Bewusstseins, sozusagen nach einer Rückkehr ins Paradies. Jesus empfiehlt dazu, das Leben zu lieben, indem die Liebe gelebt wird. Und er sagt: Niemand kommt zur Einheit außer auf diesem Weg.
Der Weg zur Ganzheit wird aber auch durch die griechische Mythologie bebildert. Drewermann schreibt dazu:””Das war die Entdeckung der Psychoanalyse, dass alles, was man damals gespielt hat in Griechenland im 5. Jahrhundert vor Christus, auf der Bühne unserer Seele spielt.” Und: Selbsterkenntnis zu gewinnen, gelingt nur “durch die persönliche Begegnung mit einer Liebe, die es erlaubt, ehrlich zu werden. Dafür steht die Person Jesu und alle großen Tragödien der Menschheitsliteratur. ” Wenn es uns doch auch möglich wäre, dass alles in uns zusammen käme und die Widersprüche unserer Seele sich vereinten, dann hätten wir die Polarität überwunden.
Klaus Bohne
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